Medikamentensucht
Bei Medikamentensucht entwickeln die Betroffenen ein kaum beherrschbares Verlangen nach einem bestimmten Medikament. Eine solche Abhängigkeit kann sich beispielsweise bei Dauergebrauch oder zu hoher Dosierung einer Arznei entwickeln. Hohes Suchtpotenzial besitzen vor allem Schmerz-, Beruhigungs- und Schlafmittel. Ihr Absetzen führt im Falle einer Abhängigkeit zu körperlichen und psychischen Entzugserscheinungen. Eine Medikamentensucht stellt sich meist schleichend ein und wird häufig erst spät entdeckt. Lesen Sie hier alles Wichtige zur Medikamentensucht.
Medikamentensucht: Beschreibung
Allgemein wird der Begriff „Sucht“ eher mit Alkohol- oder Drogenabhängigkeit in Verbindung gebracht. Doch auch Medikamente können süchtig machen. Nach Einschätzung von Experten handelt es sich bei Medikamentensucht sogar um ein recht verbreitetes Problem. Die Betroffenen entwickeln nach Absetzen des jeweiligen Präparats körperliche oder psychische Entzugserscheinungen oder auch beides.
Wen betrifft die Medikamentensucht?
Medikamentensucht ist in allen sozialen Schichten zu finden. In Deutschland sind nach Schätzungen etwa 1,4 bis 1,9 Millionen Menschen medikamentenabhängig. Zwei Drittel davon sind Frauen. Unabhängig vom Geschlecht sind ältere Menschen häufiger betroffen als jüngere. Experten gehen davon aus, dass weit mehr Menschen unter Medikamentensucht leiden als bekannt ist. Oft wird die Abhängigkeit nicht erkannt. Somit ist die Dunkelziffer vermutlich hoch.
Unterscheidung Medikamentenmissbrauch und Medikamentensucht
Ärzte unterschieden zwischen Medikamentensucht und Medikamentenmissbrauch. Ein Medikamentenmissbrauch liegt immer dann vor, wenn Arzneimittel anders als vom verschreibenden Arzt vorgesehen eingesetzt werden. Dies ist dann der Fall, wenn ein Medikament zu lange, in zu hoher Dosierung oder ohne medizinische Notwendigkeit eingesetzt wird. Der Medikamentenmissbrauch ist oft der erste Schritt auf dem Weg in eine Medikamentensucht. Von einer Medikamentensucht spricht man aber nur, wenn die konsumierten Arzneimittel die Psyche beeinflussen (psychotrope Medikamente).
Unterscheidung körperliche und psychische Abhängigkeit
Wenn Menschen mit einer Medikamentensucht das entsprechende Medikament für eine gewisse Zeit nicht mehr oder in zu geringer Dosierung einnehmen, können Entzugserscheinungen auftreten. Bei einer körperlichen Abhängigkeit treten nach dem Absetzen des Medikaments körperliche Entzugserscheinungen wie Kopfschmerzen, Übelkeit, innere Unruhe und je nach Wirkstoff eine Vielzahl an weiteren Beschwerden. Die psychische Abhängigkeit äußert sich in erster Linie in einem starken Verlangen („Craving“) nach dem Medikament. Das Absetzen des Arzneimittels hat zwar keine körperlichen Auswirkungen, ist für den Betroffenen aber dennoch schwer zu ertragen. Er das Gefühl, das Medikament unbedingt zu brauchen und möchte die oft stimmungssteigernde Wirkung wiedererleben.
Medikamentensucht: Symptome
Die Symptome einer Medikamentensucht treten auf, wenn der Betroffene die entsprechenden Medikamente eine gewisse Zeit nicht mehr oder in zu niedriger Dosis einnimmt. Es stellen sich dann sowohl körperliche als auch psychische Entzugserscheinungen ein.
Bei manchen Medikamenten kann der missbräuchlich eingesetzte Wirkstoff selbst Symptome verursachen. Beispielsweise können manche Medikamente bei übermäßigem Einsatz tief greifende Veränderungen der Persönlichkeit bewirken.
Die Arzneimittel mit dem höchsten Suchtpotenzial sind folgende Substanzgruppen:
- Schlaf- und Beruhigungsmittel, zum Beispiel Benzodiazepine
- Anregungsmittel und Appetitzügler (Stimulanzien), zum Beispiel Amphetamine
- Schmerz- und Betäubungsmittel, zum Beispiel Opioide
Medikamentensucht: Schlaf- und Beruhigungsmittel
Bei Angsterkrankungen, Schlafstörungen oder Stressanzeichen verschreibt der Arzt häufig Benzodiazepine. Benzodiazepine sind Medikamente, die rezeptpflichtig in der Apotheke erhältlich sind. Sie wirken angstlösend, entspannend und beruhigend und werden auch als Tranquilizer bezeichnet (lat.: tranquillare = beruhigen). Schlafmittel können insbesondere in akuten Belastungssituationen eine große Erleichterung darstellen. Bei beiden Wirkstoffgruppen gilt jedoch, dass eine zu lange Anwendung in eine Medikamentensucht führen kann. Schlaf- und Beruhigungsmittel sollten daher grundsätzlich nicht länger als vier Wochen eingenommen werden.
Symptome: Werden Schlaf- und Beruhigungsmittel über einen längeren Zeitraum eingenommen, haben sie ein enormes Suchtpotenzial. Sie machen sowohl körperlich, als auch psychisch abhängig. Außerdem kommt es zu einer Toleranzerhöhung. Das bedeutet, dass die Dosis immer weiter gesteigert werden muss, um den gleichen Effekt zu erzielen. Typische Symptome einer Medikamentensucht durch den Missbrauch von Schlaf- und Beruhigungsmitteln sind Leistungseinbußen, Verflachung der Interessen und eine allmähliche Veränderungen der Persönlichkeit. Hinzu kommen schwere Entzugserscheinungen wie Schwäche, Schwindel, Zittern, innere Unruhe, Schlafstörungen, Übelkeit, Kopfschmerzen, Zittern, Angstzustände, Reizbarkeit und Krampfanfälle. Außerdem kann sich eine sogenannte Wirkungsumkehr einstellen. Das bedeutet, dass die Betroffenen auf das das Mittel nicht mehr müde und ruhig, sondern im Gegenteil übererregt und euphorisiert reagieren.
Medikamentensucht: Anregungsmittel und Appetitzügler (Psychostimulanzien)
Die sogenannten Psychostimulanzien sind Medikamente, die antriebssteigernd und appetitzügelnd wirken. Sie unterdrücken Müdigkeit und Hungergefühle und erhöhen die Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit. Stimulanzien werden bei Patienten mit Schlummersucht (Narkolepsie) und Aufmerksamkeit-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) angewendet. Nehmen Betroffene die Medikamente nach Vorschrift des Arztes ein, entwickelt sich in der Regel keine Medikamentensucht. Es kommt jedoch vor, dass sich beispielsweise Sportler Zugriff auf Aufputschmittel wie Amphetamine verschaffen, um leistungsfähiger zu sein. Appetitzügelnde Stimulanzien wiederum werden nicht selten von Magersüchtigen eingenommen. Bei längerer Einnahme besteht eine hohe Gefahr, abhängig zu werden.
Symptome: Symptome des Entzugs sind Müdigkeit, psychomotorische Verlangsamung, Unruhe, Schlafstörungen sowie schwere Depressionen bis hin zur Suizidneigung.
Medikamentensucht: Schmerz- und Betäubungsmittel
Als sehr wirksame Schmerz- und Betäubungsmittel (Analgetika) werden die sogenannten Opioide vor allem bei sehr starken und chronischen Schmerzen eingesetzt. Diese Morphiumabkömmlinge haben zudem eine stimmungshebende Wirkung.
Symptome: Opioide führen bei falscher Dosis oder falscher Anwendungsdauer zu einer psychischen und körperlichen Abhängigkeit sowie einer Toleranzentwicklung. Ihr Suchtpotenzial ist hoch. Die Einnahme muss daher unter strenger ärztlicher Kontrolle erfolgen. Werden die Schmerzmittel sehr häufig eingenommen, können die Medikamente einen Dauerkopfschmerz erzeugen („Medikamenteninduzierter Kopfschmerz“). Zu den Entzugserscheinungen gehören ebenfalls Kopfschmerzen sowie Zittern, Schlafstörungen, Unruhe, Verspannung, schlechte Laune und Bewusstseinsstörungen.
Symptome des Medikamentenmussbrauchs
Abgesehen von den oben genannten Wirkstoffen gibt es noch weitere Substanzklassen, die keine klassische Medikamentensucht verursachen, da sie nicht auf die Psyche wirken. Allerdings können diese Medikamente bei Missbrauch ebenfalls süchtig machen und große Schäden anrichten. Folgende Medikamente werden häufig missbräuchlich verwendet:
Nasentropfen und -sprays mit abschwellender Wirkung
Schon nach fünf bis sieben Tagen hat sich der Körper vieler Patienten an die Mittel gewöhnt. Setzen sie die Tropfen ab, schwillt ihre Nasenschleimhaut sofort wieder an. Das ist sehr unangenehm. Da die Betroffenen glauben, dass es ein erneuter Schnupfen sei, der ihre Atemprobleme verursacht, wenden sie die Nasentropfen oder das Nasenspray weiter an. Daraus kann sich ein Teufelskreis ergeben. Der Dauergebrauch kann die Schleimhaut der Nase stark schädigen. Im Extremfall siedeln sich Bakterien an, die übel riechende Krusten bilden – es entsteht eine sogenannte Stinknase.
Abführmittel (Laxanzien)
An die Wirkung vieler chemischer oder pflanzlicher Abführmittel gewöhnt sich der Darm schnell. Nach Absetzen der Präparate stellt sich dann eine schwere Verstopfung ein. Der Betroffene greift dann erneut zu Laxanzien. Auch in dieser Situation kann sich durch übermäßigen Gebrauch ein Teufelskreis entwickelt, der Betroffene dazu bewegt, immer wieder Abführmittel einzunehmen. Missbräuchlich verwendet werden Laxanzien oft von Menschen mit Essstörungen, die über die Abführmittel ihr Gewicht regulieren wollen.
Wachstums- und Sexualhormone
Wachstums- und Sexualhormone sind beliebte Dopingmittel im Wettkampfsport sowie bei Bodybuildern. So unterstützen etwa Steoride wie das männliche Geschlechtshormon Testosteron und seine synthetischen Abkömmlinge sowie das Wachstumshormon HGH (Growth Hormone) den Aufbau von Muskelmasse. Solche Stoffe bezeichnet man als Anabolika (vom griechischen on ana „auf“ und ballein „werfen“). Der missbräuchliche Einsatz dieser Hormone ist höchst gefährlich: Da sie auch der Herzmuskel zu einem übermäßigen Wachstum anregen, ist das Risiko für den plötzlichen Herztod erhöht.
Steroide werden in der Leber abgebaut, was bei übermäßiger Anwendung zu Leberschäden bis hin zu Leberkrebs führen kann. Weitere Symptome, die bei einem Anabolika-Missbrauch auftreten können, sind erhöhte Schweißproduktion, Kurzatmigkeit, Hautprobleme (Steroid-Akne), erhöhter Blutdruck, erhöhter Augeninnendruck, Haarausfall, Prostatawachstum, Brustbildung bei Männern (Gynäkomastie), Kopfschmerzen und Depressionen. Besonders ärgerlich ist für die Betroffenen, dass die Muskeln ohne eine kontinuierliche Einnahme der Anabolika häufig wieder an Größe verlieren.
Auch weibliche Sexualhormone wie Östrogene werden gelegentlich missbräuchlich eingesetzt. Sie haben den Ruf, den Alterungsprozess zu verlangsamen (Anti-Aging-Effekt). Diese Wirkung ist bislang aber umstritten. Sicher scheint hingegen zu sein, dass der übermäßige Einsatz von weiblichen Geschlechtshormonen das Risiko für bestimmte Krebsarten wie Brustkrebs oder Gebärmutterhalskrebs erhöht.
Alkoholhaltige Arzneimittel
In vielen flüssigen Arzneimittelzubereitungen (auch in Homöopathika) dient Alkohol als Trägersubstanz oder Konservierungsmittel für die jeweiligen Wirkstoffe. Dabei wird der Ethanol-Gehalt solcher Arzneimittel oft unterschätzt. Für gesunde Personen ist der Alkoholgehalt in Medikamenten meist bedenkenlos. Jedoch sollten Menschen mit einer Leberfunktionsstörung, einer Epilepsie oder einem Alkoholproblem auf alkoholhaltige Arzneimittel besser verzichten. Es kann sonst zu schweren Wechselwirkungen zwischen den alkoholhaltigen Medikamenten und anderen Arzneien kommen. Beispielsweise werden Opioide in ihrer Wirkung durch Alkohol verstärkt. Der Dauergebrauch alkoholhaltiger Arzneimittel kann zudem auch alkoholabhängig machen oder bei „trockenen“ Alkoholikern einen Rückfall auslösen.
Medikamentensucht: Ursachen und Risikofaktoren
Eine Medikamentensucht beginnt meist mit der Verschreibung eines rezeptpflichtigen Medikaments durch einen Arzt. Verordnet er Medikamente mit Suchtpotenzial zu nachlässig, kann der Patient in eine Medikamentensucht rutschen. Oft ist es jedoch der Patient selbst, der eine Arznei missbräuchlichen verwendet, beispielsweise weil er ihre psychische Wirkung schätzt.
Vom Arzt verursachte Medikamentensucht (iatrogene Medikamentensucht)
Am häufigsten beginnt die Medikamentensucht mit der Verschreibung von Medikamenten durch den Arzt. Vor allem ältere Menschen kommen häufig mit Schlafproblemen und chronischen Schmerzen in die Praxis. Der Arzt verschreibt Ihnen zur Beschwerdelinderung dann häufig Schmerz- oder Schlafmittel. Besonders gefährdet sind Menschen, die lange Zeit an diffusen, schwer zu fassenden Symptomen leiden, welche nicht behoben werden können. In diesen Fällen wissen die Ärzte dem Patienten häufig nicht anders zu helfen, als ihm weiterhin Schmerz- und Beruhigungsmittel zu verschreiben. Die Gefahr einer Medikamentensucht wird dann oftmals entweder übersehen oder sogar in Kauf genommen.
Die Gefahr einer iatrogenen Medikamentensucht besteht also vor allem dann, wenn der Arzt keine ursächliche Diagnose stellen kann, sondern mit den Medikamenten eine rein symptomatische Behandlung durchführt. Dies ist vor allem dann problematisch, wenn körperliche Symptome wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder andere Beschwerden Ausdruck einer psychischen Störung, wie beispielsweise einer Depression oder Angststörung sind.
Wenn diese im Verborgenen liegenden Ursachen einer Medikamentensucht nicht behandelt werden, ist das Suchtrisiko für den Patienten sehr groß: Er versucht, mit Hilfe der Tabletten seine Beschwerden zu verringern. Eine Aussicht auf Erfolg ist gerade bei psychischen Auslösern durch eine rein symptomatische Pharmakotherapie jedoch gering. Gehen die Beschwerden nicht zurück, erhöhen manche Patienten die Dosis ohne Rücksprache mit dem Arzt. Sie erkennen nicht, dass die Beschwerden durch die medikamentöse Behandlung nicht ausreichend behandelt und durch die Medikamente selbst sogar noch verstärkt werden können. In diesem Fall spricht man von einer Hochdosisabhängigkeit.
Gefährlich ist besonders eine langfristige Verschreibung mancher Psychopharmaka. Aufgrund der vielen Aufklärungsarbeit zum Thema Medikamentensucht ist es heute üblich, riskante Medikamente für höchstens einige Wochen zu verschreiben. Manche Patienten umgehen diese Sicherheitsmaßnahme jedoch, indem sie ständig den Arzt wechseln.
Allerdings machen nicht alle Psychopharmaka abhängig. Antidepressiva haben kein Suchtpotenzial. Sie sollen und müssen oft über Monate und Jahre hinweg eingenommen werden.
Eine Tablettensucht ist auch für den Arzt nicht leicht zu erkennen. Das gilt besonders, wenn eine Niedrigdosisabhängigkeit vorliegt. Von einer Niedrigdosisabhängigkeit bei Medikamentensucht spricht man, wenn der Patient nach dem Wirkstoff süchtig ist, obwohl er nur eine geringe Dosis einnimmt. Die Dosis liegt dann noch im medizinisch vorgegeben Rahmen, trotzdem wird der Patient abhängig, wenn er die Medikamente über einen langen Zeitraum einnimmt. Ein Warnzeichen für die Niedrigdosisabhängigkeit ist es, wenn der Patient sich über die nachlassende Wirkung der Medikamente beklagt. Dieses Phänomen ist vor allem bei manchen Beruhigungsmitteln (Benzodiazepinen) bekannt.
Individuelle Faktoren: Lernerfahrungen, Soziokulturelle Faktoren, Alter und Geschlecht
Experten vermuten, dass vor allem die persönlichen und gesellschaftlichen Hintergründe ein entscheidender Faktor für die Entstehung einer Medikamentensucht sein können. So hat es zum Beispiel einen Einfluss, wenn jemand bereits in der Kindheit lernt, bei Kopfschmerzen oder anderem Unwohlsein bedenkenlos Medikamente einzunehmen. Zum einen spielt also die weitverbreitete Haltung eine Rolle, jede Beschwerde durch das Schlucken einer Pille zu bewältigen. Zum anderen führt der Leistungs- und Konkurrenzdruck in der Gesellschaft dazu, dass viele Menschen Schmerzen und Krankheiten unterdrücken, weil sie ihrem Umfeld keine Schwäche zeigen wollen. Manche Menschen benötigen die Medikamente auch, um den psychischen Druck der leistungsorientierten Gesellschaft überhaupt auszuhalten.
Schon lange beschäftigt sich die Wissenschaft auch mit der Frage, ob es eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur gibt, die einen Menschen für Medikamentensucht besonders anfällig macht. Bislang kann man nicht davon ausgehen, dass es „die eine Suchtpersönlichkeit“ gibt.
Eine hohe Impulsivität und Neugierde auf die Wirkung von Mitteln scheinen jedoch einen Einfluss haben. Vor allem junge Menschen experimentieren mit den Effekten von Medikamenten und anderen Stoffen. Mädchen sind mit dem Beginn der Menstruation besonders anfällig für einen Medikamentenmissbrauch. Sie nehmen häufig, mitunter sogar vorbeugend Schmerzmittel ein beispielsweise gegen Regelschmerzen aber auch stressbedingte Spannungskopfschmerzen. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen wurde bei Untersuchungen in Schulen festgestellt, dass 20 Prozent der pubertierenden Mädchen fast täglich Tabletten einnehmen.
Auch die genetische Ausstattung eines Menschen könnte eine Rolle spielen. Um das zu klären, wurden Familien- und Zwillingsstudien durchgeführt. Bisher ergaben die genetischen Untersuchungen zur Medikamentensucht jedoch keine eindeutigen Befunde.
Geschlechtsunterschiede
Bei Problemen in Job und Familie, Sorgen oder Krisen greifen Frauen öfter zu Medikamenten als Männer, weshalb es bei ihnen doppelt so viele Fälle von Medikamentensucht gibt. Das „starke Geschlecht“ flüchtet in Belastungssituation dagegen deutlich häufiger in den Alkohol. Es gibt aber noch weitere geschlechtsspezifische Unterschiede beim Arzneimittelkonsum: Frauen sind insgesamt öfter in ärztlicher Behandlung als Männer und nehmen daher auch mehr Medikamente ein. Frauen bekommen zudem wesentlich öfter Psychopharmaka beziehungsweise Schlaf- und Beruhigungsmittel verordnet als Männer.
Risikofaktor Alter
Viele Medikamentengruppen, welche die Gefahr einer Medikamentensucht bergen, werden mit steigendem Lebensalter häufiger verordnet. Dazu zählen zum Beispiel Schmerzmittel und verschiedene psychoaktive Substanzen (vor allem Benzodiazepine). Besonders hoch ist der Verbrauch an Psychopharmaka bei Senioren, die in Alters- und Pflegeheimen leben.
In höherem Lebensalter nehmen Menschen generell mehr Medikamente ein als in jüngeren Jahren - nicht zuletzt, weil mit den Lebensjahren auch die Zahl der Erkrankungen steigt. Wenn ein Mensch gleichzeitig an Diabetes, Grauem Star, Schlafstörungen und hohem Blutdruck leidet und teilweise auch noch von mehreren Ärzten betreut wird, wächst die Liste an verordneten Medikamenten zum Teil drastisch. Das erhöht nicht nur das Missbrauchs- und Suchtrisiko, sondern ist noch mit weiteren Gesundheitsgefahren verbunden: Es kann etwa zu unvorhersehbaren Wechselwirkungen sowie zu Einnahmefehlern kommen, weil die vielen Tabletten den Patienten überfordern.
Eine Gefahrenquelle stellt auch die richtige Dosierung dar: Veränderte Stoffwechselfunktionen sowie Organstörungen (zum Beispiel eine eingeschränkte Nierenfunktion) im Alter bewirken, dass der Körper manche Arzneimittel langsamer abbaut. Daher sollten Senioren bei vielen Medikamenten eine niedrigere Dosis einnehmen als Menschen jüngeren Alters. Dies wird aber nicht immer ausreichend berücksichtigt, sodass viele ältere Patienten eine zu hohe Dosis erhalten.
Medikamentenmissbrauch zu Rauschzwecken
In diesen Fällen geht es den Betroffenen nicht darum, medizinische Beschwerden zu lindern. Vielmehr wollen sie durch die Medikamente ein angenehmes Rauschgefühl erreichen – beispielsweise manche starke Schmerzmittel (Opioide). Wenn die Abhängigen die Arzneimittel nicht über ein Rezept vom Arzt erhalten, versuchen sie diese Medikamente illegal zu beziehen, beispielsweise über Apotheken aus dem Ausland oder durch Rezeptfälschungen. Meist konsumieren sie zusätzlich noch weitere Substanzen, wie Alkohol oder Kokain, um den Rauschzustand zu verstärken. Durch die Kombination mit anderen Wirkstoffen können die Effekte bestimmter Medikamente erhöht oder auch wieder gesenkt werden. Insbesondere die Kombination mit Alkohol birgt unvorhersehbare Risiken. Wird Alkohol zusammen mit Benzodiazepinen eingenommen, verstärkt sich nicht nur akut die Wirkung, es kommt langfristig auch zu einer Kreuztoleranz. Das bedeutet, dass Toleranzeffekte bezüglich der einen Substanz auch zu einer Toleranz gegenüber der anderen Substanz führen. Alkoholabhängige benötigen daher eine höhere Dosis von Benzodiazepinen, um eine Wirkung zu spüren.
Medikamentensucht: Untersuchungen und Diagnose
Die Medikamentensucht wird manchmal auch als „heimliche Sucht“ bezeichnet, weil sie Außenstehenden oft verborgen bleibt. Auch den Patienten ist nicht immer klar, dass sie medikamentensüchtig sind. Anders als beispielsweise bei Alkoholabhängigen gibt es keine offensichtlichen Hinweise auf eine Sucht. Selbst wenn Symptome wie Müdigkeit oder Kopfschmerzen auftreten, werden sie selten mit der Medikamenteneinnahme in Verbindung gebracht. Manchen Menschen hingegen ist ihre Medikamentensucht durchaus bewusst, sie verdrängen dies jedoch oder verschließen sich der dringend notwendigen Behandlung.
Die ärztliche Untersuchung
Der erste Ansprechpartner bei Verdacht auf eine Medikamentensucht ist normalerweise der Hausarzt. Doch auch Ärzten fällt die Medikamentensucht meist spät auf. Häufig tritt sie erst zutage, wenn das Medikament abgesetzt wird und die Entzugserscheinungen einsetzen. Um eine Medikamentensucht frühzeitig zu erkennen, kann der Hausarzt beispielsweise folgende Fragen stellen:
- Nehmen Sie regelmäßig Medikamente zur Beruhigung oder gegen Schmerzen, Angst- oder Schlafstörungen ein? Wenn ja, wie oft?
- Haben Sie das Gefühl, diese Medikamente dringend zu benötigen?
- Haben Sie den Eindruck, dass die Wirkung nach einiger Zeit nachgelassen hat?
- Haben Sie schon einmal versucht, die Medikamente abzusetzen?
- Sind Ihnen Nebenwirkungen aufgefallen?
- Haben Sie die Dosis schon einmal erhöht?
Bestätigt sich der Verdacht auf eine Medikamentensucht, wird der Patient an eine psychologische Fachbetreuung überwiesen. Der Psychologe kann feststellen, ob neben der Medikamentensucht auch eine behandlungsbedürftige psychische Störung vorliegt.
Die Diagnose Medikamentenabhängigkeit
Eine Abhängigkeitsdiagnose stellt der Arzt nur dann, wenn der Betroffene Medikamente einnimmt, die sich auf die Psyche auswirken (psychotrope Medikamente). Dazu gehören Schlaf-, Anregungs- und Schmerzmittel. Die am häufigsten verschriebene und konsumierte psychotrope Wirkstoffgruppe sind die Benzodiazepine, die beruhigend wirken.
Nach dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-IV) muss für die Diagnose einer Medikamentenabhängigkeit (Medikamentensucht) ein Substanzgebrauch vorliegen, der in klinisch bedeutsamer Weise zu Beeinträchtigungen und Leiden führt. Zudem müssen für die Diagnose „Medikamentensucht“ mindestens drei der folgenden Kriterien zutreffen:
- Toleranzentwicklung, die sich durch Dosissteigerung oder verminderte Wirkung bei gleicher Dosis zeigt
- Entzugssymptome bei Absetzen oder Dosisreduktion des Medikaments
- Häufige Einnahme über einen längeren Zeitraum oder in erhöhter Menge
- Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, die Einnahme zu kontrollieren
- Hoher Zeitaufwand für die Beschaffung der Medikamente
- Einschränkung oder Aufgabe von sonstigen Aktivitäten in Beruf und Freizeit
- Einnahme trotz Bewusstsein über die negativen Auswirkungen
Medikamentensucht: Behandlung
Wenn Betroffene unerwünschte Wirkungen eines Medikamentes feststellen oder das Medikament dauerhaft nicht nach den Vorgaben der ärztlichen Verordnung einnehmen, sollten sie sich dringend Hilfe suchen. Je früher eine Medikamentensucht erkannt wird, desto leichter ist es, das Medikament abzusetzen. Aber auch Betroffenen, die seit langer Zeit Medikamente nehmen, kann mit therapeutischer und ärztlicher Anleitung geholfen werden. Auch ältere Menschen sollten vor einer Behandlung der Medikamentensucht nicht zurückschrecken, da eine erfolgreiche Therapie die Lebensqualität erheblich verbessern kann.
Der Entzug
Die Behandlung einer Medikamentensucht erfordert Zeit. In der Regel darf die Arznei nicht von heute auf morgen abgesetzt werden. Stattdessen wird die Dosis unter ärztlicher Anleitung schrittweise reduziert. Die Dosisreduktion und letztlich das vollständige Absetzen können sowohl psychische als auch körperliche Entzugserscheinungen auslösen. Insbesondere wenn mit gravierenden Entzugserscheinungen zu rechnen ist, muss dieser Entzug stationär (zum Beispiel im Krankenhaus) oder teilstationär (zum Beispiel in einer Tagesklinik) durchgeführt werden.
Stabilisierungsphase
Nach dem Entzug muss der Patient lernen, bei Stress oder innerer Anspannung anstelle der Medikamente alternative Beruhigungsmethoden einzusetzen. Solche Verfahren können erlernt werden, erfordern jedoch regelmäßige Übung und eine professionelle Anleitung. Eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Behandlung der Medikamentensucht ist die Bereitschaft des Patienten, aktiv mitzuwirken. Dazu ist es notwendig, dem Betroffenen verständlich zu machen, dass die Medikamente die auftretenden Symptome nicht mehr reduzieren, sondern diese und weitere Probleme erzeugen und somit schädlich sind.
Die Behandlung von psychischen Begleiterkrankungen
Ebenso bedeutend wie die eigentliche Therapie der Medikamentensucht ist die Behandlung eventueller psychischer Begleiterkrankungen. Häufig liegen psychische Störungen, wie Depression oder Angsterkrankungen der Medikamentensucht zugrunde. Da der Patient seine Beschwerden bisher nur mit Tabletten zu lindern versucht hat, ist es wichtig, ihm nun psychotherapeutische Bewältigungsmechanismen an die Hand zu geben. Ein häufiges Problem ist die Angst der Patienten, ohne die Medikamente nicht zurechtzukommen. Mithilfe von Angstbewältigungstrainings stärkt der Therapeut das Vertrauen des Patienten in seine eigenen Bewältigungsstrategien. In Einzel- und Gruppentherapien bekommt der Betroffene die Möglichkeit, weitere psychische Probleme zu bearbeiten, die mit der Medikamentensucht zusammenhängen.
Medikamentensucht: Krankheitsverlauf und Prognose
Eine Medikamentensucht entsteht meistens schleichend. Die Patienten klagen beim Arzt über Ängste, Schlafstörungen, andere psychische Beschwerden oder Schmerzen. Der Arzt verschreibt ihnen daher zunächst ein Medikament, das vorerst zumindest teilweise die gewünschte Wirkung erzielt. Wird eine zugrundeliegende psychische Störung jedoch nicht erkannt und nicht entsprechend behandelt, treten die Symptome nach einiger Zeit erneut auf. Der Betroffene versucht diese mit einer Dosissteigerung der Medikamente in den Griff zu kriegen, ohne zu wissen, dass er damit die Beschwerden sogar verstärkt.
Da die Einnahme von Medikamenten in der Gesellschaft häufig als gesundheitsförderndes Verhalten angesehen wird, kann eine Medikamentensucht über viele Jahre oder sogar Jahrzehnte hinweg unerkannt bleiben. Es ist weder für die Medikamentenabhängigen selbst, noch für deren Freunde und Familienmitglieder leicht, die Erkrankung zu bemerken. Die Folgen der Medikamentensucht werden erst bei genauerem Hinsehen sichtbar. Vor allem bei einer Niedrigdosisabhängigkeit sind die Betroffenen weiterhin sozial und beruflich voll involviert.
Besteht eine Medikamentensucht nach psychotropen Medikamenten über lange Zeit, ist der Entzug psychisch und körperlich sehr belastend. Daher sollte die Entwöhnung der Medikamentensucht niemals ohne professionelle Hilfe durchgeführt werden. Entzugssymptome treten individuell und je nach Wirkstoff unterschiedlich ein. Das kann nach zehn Tagen oder auch erst nach sechs Wochen sein. Experten gehen davon aus, dass bei der Einnahme von Benzodiazepinen nach einem Zeitraum von drei Monaten bei 25 Prozent der Patienten Entzugserscheinungen einsetzen. Nach einem Jahr steigt diese Rate auf 80 Prozent an. Durch ambulante oder stationäre Therapien kann eine Medikamentensucht aber auch nach einiger Zeit noch erfolgreich behandelt werden. Je früher die Medikamentensucht erkannt wird, desto besser sind auch die Heilungschancen.